- -85 - ohne reale Bas,is; er ist eine „Religion" - aber eine Religion ohne Ethos; er ist ein „Glaube" - aber ein Glaube ohne Treue. In Wirklichkeit ist er nichts als ein großes Abenteuer. Er blendete g,estern durch seine „Verteidigung der nationalen Größe" gegen den Bolschewismus. Nachdem er das Vaterland vor ihm gerettet hat, blendet er heute durch die Macht, die allen Oberfl~chlidhen immer schön und anziehend erscheint. Dahinter steht nichts als die stumpfe, geistlose Reaktion. Mussolini Ich lernte Mussolini einige Monate, bevor er Ministerpräsident wurde, :in Berlin k,eunen, als ich die Gelegenheit benutzte, um ihn zu intervi,ewen. Ein großer, breitschultriger, gutgekleideter, Herr von einigen dreißig Jah.r,en, so das, was die Romansdrriftstellerinnen eine imposante Figur nennen. Auf dem Nachttisch des Hotelzimmers, in dem unsere Unterred1U11gstattfand, lag zwischen Telegrammen und Zeitungen ein großer Browning. Man zweifelte ~einen Augenblick, ~faß er ihn gegebenenfalls zu gebrauchen verstände. Es war kurze Zielt vor der Konferenz von Genua, Wld er lobte sehr den damaligen italienischen Außenminister Schanzer, den er ein paar Wochen später gemeinsam mit den Popolari zum Rücktritt zwang. Ich fragte ihn nach seiner Stellung zur Monarchie, und er erklärte mir ziemlich unklar, daß er sich eine aristokratische ·Republik, ung,efähr nach dem Muster des alten Venedigs, vorstelle. Als ich mich verabsch1edete, unterließ er nicht, mir neben einem Bündel Zeitschriften und Programmen auch seine Photographie zu v,erehren. Ich habe damals das Bild einer ganzen Anzahl Leuten geZ!eigt,ohne ihnen zunächst zu sagen, wer der Abgebildete sei; die Urteile, die ich zu hören bekam, schwankten alle nur, ob es ein Tenor oder ein Filmschauspieler sei. Das war auch sofort meiine Empfindung, als ich ihm fünf Minuten gegenübersaß.. Ein eitler Komödiant! Einer, bei dem jede Bewegung auf ihre Wirkung berechnet ist, der immer auf Beifa11 lauert und sich für j-ede Schmeichelei prostituiert. Aber er ist auch intelligent: Klugheit und Eitelkeit, das ergibt Ehrgeiz. Er ist energisch: das nimmt seinem Ehrg,ei_zalle Hemmungen. Ein Erfolgsucher um jeden Preis. Da habt ihr den ganzen Mussolini ! Zum zweitenmal sah ich ihn in Rom im Oktober 1922, in den ' Tagen, als die Stadt überflutet war von den 60 000 Schwarz~ '""hemden,die zu ihrer Eroberung aus ganz Italien zusammengeströmt waren. Ein Vorbeimarsch am Grabe des unbekannten Soldaten und am Quirinal sollte den leicht errungen~n Sieg beschließien.
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