Hanns-Erich Kaminski - Fascismus in Italien

- 22 - bei denen Italien ihrer Meinung nach übervorteilt wurde. Es begann ein erbitterter Streit zwischen den Verbündeten, bei dem man sich .gegenseitig die erlittenen Verluste und gebrachten Opfer vorrechnete und die gemachten Gewinne verglich. In ohnmächtiger Wut sahen die kriegsfreundlichen Parteien, wie Frankreich seine politische und wirtschaftliche l\tlacht verstärkte, England sein Kolonialreich ausdehnte, Jugoslawien ein Großstaat mit Rechten auf die Adria wurde, Griechenland als starke Mittelmeerm.acht emporstieg, indes Italien neben dem „abgerundeten" Trentino nur Albanien und einen kleinasiatischen Bezirk von Adali.a erhielt, Ge• biete, die es aus militärischen, politischen und finanziellen Gründen noch dazu bald. aufzugeben gezwungen war. Die großen Massen andererseits begriffen, daß das ganze System der kapitalistisch-imperialistischen Staaten die Quelle aller Uebel, der eigentliche Schuldige des Weltkriegs und seiner bitteren Folgen war. Sie blickten nach· Rußland, Deutschland, Oesterreich, Ungarn, wo die Völker selbst ihre Schicksale in die Hand genommen hatten. Die Stunde des Sozialismus war gekommen. Das Ministerium Orlando, das den nationalen Widerstand nach der Niederlage von Caporetto organisiert hatte, fiel. Sein Schatzminister Nitti bildete die neue Regierung. Es gibt kein ehrenderes Zeugnis für Nitti, als daß. er und nicht· Turati oder d' Arragona, Serrati oder Bombacci der von den Fascisten meistgehaßte Mann wurde. Gegen ihn in erster Linie richteten sich die politischen Angriffe und die _persönlichen Verleumdungen, jene elende Jauche, mit der die Reaktion immer ihre Feinde zu übergießen pflegt. Daß er sein Vermögen rechtzeitig nach Amerika gebracht haben und so an der Verschlechterung der itaHenischen Valuta interessiert gewesen sein sollte, war noch nicht die gemeinste dieser Verleumdungen, aber sicher war die dümmste, daß er als verkappter Bolschewist nach der Republik strebe, um sich zu deren Präsidenten zu machen. Tatsächlich ist Nitti nicht im entferntesten Sozialist, er sah nur vernünftigerweise die wirtschaftlichen Ursachen der Krise und erkannte wohl, daß die sozialen Forderungen der Zeit Befriedigung erheischten. In vielen Beziehungen ähnelt sein demokratisch-soziales Programm dem des armen Rathenau, mit dem er auch den Mangel einer eigenen starken Partei gemein hatte, die ihm erlaubt hätte, seine Pläne in die Wirklichkeit umzusetzen. Aber Rathenau ist tot, und Nitti lebt, und ohne Zweifel hat er die poHtische Bühne, von der iihn die Diktatur vertrieben hat, noch nicht für immer verlassen. Eine seiner ersten Handlungen als Mdnisterpräs'ident war die Gewährung einer umfassenden Amnestie für die Deserteure. Aber daß er darum noch keineswegs mit der R,evolution liebäugelte, beweist die Tatsache, daß er alsbald clie Polizei verstärkte, indem er ein neues Gendarmeriekorps bildete. Troti.dem hätten die Sozia-

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