Hanns-Erich Kaminski - Fascismus in Italien

- 11 schiedenen Klassen ergeben. Die Schwäche des Industriekapitals bedingt naturgemäß auch die Schwäche des Proletariats, und das verhältnismäßig kräftigere Handelskapital bringt ja nur einen an Zahl kleinen Kreis in seine .unmittelbare, deutlich sichtbare Abhängigkeit. Außerdem befinden sich die kapitalistischen Zentren ausnahmslos in Oberitalien, so daß ihre Gegensätze die· Provinzen, die südlich der Emilia liegen, direkt überhaupt nicht berühren. Wenn sie trotzdem von entscheidendem Einfluß auf den .Rhythmus des öffentlichen Lebens s,ind, so liegt das einmal an der Tatsache, daß sie sich auf derselben Linie mit dem gesamteuropäischen Klass·enkampf befänden, zum andern daran, daß Kapitalisten und Proletarier den vorgeschrittensten u;nd bewußtesten Teil der Bevölkerung bilden. Di1 e große Mehrheit des italienischen Volkes kennt die kapitalistischen Probleme nur aus den Zeitungen, während ihre ·eigenen Interessen andere Grundlagen haben. Ihr Klassenkampf Hegt im wesentlichen zwischen Grundbesitzern und landlos,en Bauern, spielt sich also in völlig verschiedenen Formen von dem in der großen Industrie ab. Freilich werden die Umstände, die sich aus dem Verstreutsein des Landproletariats, aus seiner Bodenständigkeit und aus seiner Unbildung ergeben - die Zahl der Analphabeten betrug im Jahre 1911 noch 16 Millionen gleich 46,7 Prozent der Gesamtbevölkerung -, iim gewissen Sinne durch das natürliche Rebellentum ausgegliche11, das ebenso eine Folge des Volkscharakters wie der revolutionären Tradition Italiens ist. Sein eigentliches Gepräge erhält das Land aber weder von den· Kapitalisten der verschiedenen Kategorien, noch von den Proletariern, seien es industrielle oder agrarische, sondern von jenen breiten Schichten, die dazwischen stehen. Das italienische Kleinbürg-ertum hat sich bei der ökonomischen Struktur der Halbinsel eine Unabhängigkeit bewahren können, die es in den Industrieländem längst verlor,en hat. Die kleinen Kaufleute, Beamten, Handwerker, Angestellten lebten wenigstens bis rum Kriege bei bescheidensten Ansprüchen in einem gewissen Wohlstand, der ihnen ein Selbstbewußtsein zu entwickeln erlaubte, das die gleichen Schichten seit 1848 sonst nirgends· mehr besitzen. Dieses Kleinbürgertum konnte sich noch Ideale leisten, die_ aus ihnen hervor~ gehenden Intellektuellen brauchten sich noch nicht in die Hörigkeit des Kapitals zu begeben, ohne darum fürchten zu müssen, zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben ru werden. Dieses Kleinbürgertum ist der wahre J'iäger der itaHenischen Oeffentlichkeit. Der Kapitalismus herrschte, weil er am einheitlichsten und am besten organisiert von den nichtproletarischen Gruppen war, aber er mußte sich dazu des Kleinbürgertums bedienen, das ihm niemals gestattete, reaktionär. im vollen Sinne des Wortes zu sein. Um die Entw-ick-

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