Hanns-Erich Kaminski - Fascismus in Italien

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HANNS-ERICH KAMINSKI - \ FASCISMUSIN ITALIEN . GRUNDLAGEN· AUFSTIEG• NIEDERGANG t- 1 GIACOMO MATTEOTTI EIN JAHR FASCISTEN-H.ERRSCHAFT · VERLAG FÜR SOZJALWISSENSCHAFT OMBH. BERLIN SW68 ....

,.. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Uebersetzung, vorbehalten Copyright 1925 by Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin

Inhaltsverzeichnis Vorwort • • • • • · · • • · · · • • • • • · · · • · · · · · Wirtschaft, Volkscharakter, Klassen und Parteien in Italien • Die Nachkriegskrise Die sozialistische Welle Die Anfänge des Fascismus Der Aufstieg des Fascismus Die diktatoriale Periode des Fascismus Die äußere Politik des Fascismus • · • • Die innere Politik des Fascismus • • • Die Gewerkschaftspolitik des Fascismus • Die plebiszitäre Periode des Fascismus Die Ideologie des Fascismus Mussolini Das Wesen des Fascismus • Die Opposition gegen den Fascismus Das Ende des Fascismus Zeittafel Nachwort Giacomo Matteotti: Ein Jahr Fascisten-Herrschaft . . . . . 1. Die Chronik der Gewalttaten • • II. Die ,,Eroberung" von Molinella . . . . Seite 5 9 17 21 29 34 41 50 59 66 74 78 85, 91 95. . 105· · 109• .111. . 117 · 119• . 129' ..

..... VORWORT Das Erscheinen des vorliegenden Buches, das im Sommer 1923 fiertig war, hat sich infolge der Schwierigkeiten auf dem de'lltschen Büchermarkt verzögert. Ich habe indessen nicht viel daran ändern müss,en. Der Fascismus hat sich in allem Wesentlichen nicht verwandelt. Seine internen Gegensätze zeichnen sich schärfer ab, die Opposition wird zusehends kräftiger; aber abges·ehen von dem Fortschreiten der täglichen Chronik ist die Diktatur dieselbe geblieben: gewalttätig und terroristisch, reaktionär und dilettantisch. Was sich dagegen zu verwandeln begonnen hat, ist die allgem,eine europäische Situation. Die revolutionäre Bewegung, die sich 1917 in fast allen europäischen Ländern bemerkbar machte, 1918 ihren Höhepunkt erreichte und 1919 abebbte, schlug 1920 in ihr Gegenteil um. In Polen, Ungarn, Jugoslawien, Rumänien, ßulgarien, Spanien gelangre die Reaktion mit Ausnahmegesetzen und Gewaltakten zur Herrschaft; in Rußland schien die revolutionäre Regierung nur durch denselben Konservativismus, der das Bestehende in den andern Ländern stützte, zu leben und sah sich zu immer weiter gehendejll Konzessionen gezwungen; in Deutschland geriet die eigentliche Macht immer mehr in die Hände weniger Industriemagnaten, währ,end schwache Regierungen lediglich den Schein eines demokrafi„ sehen Regimes aufrecht erhielten; in Frankreich wurde die Politik des nationalen Blocks immer lebhafter durch die Royalisten beeinflußt, die vor dem Kriege niemand ernst nahm; und auch in England, das sich s,eit altersher in einer gewissen Entfernung von den Strömungen des Kontinents befindet, war ein konservativ,es Kabinett ans Ruder gelangt. Das Jahr 1924 eröffnet,e wieder eine bessere, fortschrittlichere Periode. . In England brachten· die Wahlen eine sozialistische Regierung an die Macht, die nicht ohne Erfolg an der Pazifizierung Europas · arbeitete, und deren Ziele auch· noch unter der folgenden konservativen Regierung fortwirken. In Frankreich erlitt der nationale Block eine vernichtende Niederlage, und die Sozialisten sind heute, wenn man ihnen die Kommunisten zurechnet, stärker, als sie unter der Führung des unvergeßlichen Jaures waren; in Spanien

-6verliert die Säbelherrschaft Primo de Riveras ständig an Boden; Rußland, das beinahe von allen Großmächten ane'rkannt ist; befindet sich offenbar in einer Kräftigung; und schließlich hat der Dawes-Bericht nun endlich auch das Reparationsproblem einer Systematisierung nahegebracht und damit Deutschland die Möglich- . keit gegeben, sich entschlossener als bisher ·der Regelung seiner innerpolitischen Fragen zuzuw,enden. Diese verheißungsvollen Anzeichen stimmen auch gegenüber dem Resultat der reaktionären Bewegung in Italien hoffnungsfroher. Sie hat in dem Fascismus ein Phänomen geschaff,en, dessen Natur nicht leicht mit wenigen Worten zu klären. ist. Fast scheint es das Schicksal der Halbinsel zu sein, in m,e,hrals einer Beziehung eine Zwischenstellung einzunehmen. Ihrer ökonomischen Struktur nach steht sie zwischen den entwickelten und den primitiven Ländern; ihr.er politischen Bedeutung nach zwischen ·dien Großmächten urid den Mittelstaaten. Aus dem Kriege ging sie als Siegerstaat hervor, während sie tatsächlich alle Leiden der Besiegten erdulden muß. Zwischen Siegern und Besiegten steht das Königreich mit seiner Valuta, die ihm zwar gewisse Vorteile gegenüber den mittel- und osteuropäisch,en Länd1 ern einbringt, aber andererseits doch nicht genügend wertbeständig geblieben ist, um ihm die Gleichheit gegenüber den Alliierten zu sichern. Es hat mit den reichen Ländern die Arbeitslosigkeit und die Handelskrise gemein, und es teilt mit Rußland, Deutschland, Po.Jen, Ungarn und Oesterreich die sozialen Umwälzungen der Gelde.ntwerfung. Und ein Zwitter ist auch der Fascismus, der zwischen den entscheidenden Klassen der Kapitalisten und Proletarier sdne Diktatur errichten konnte iund sich erst allmähli~h der alteingesessenen Reakti,on genähert hat. Die Grundlagen, die Entwicklung und die Natur dieser besonderen Form der Reaktion v,ersucht dieses Buch aufzuweisen. Ich habe den entscheidenden Ereignissen während der beiden verflossenen Jahre in Italien beigewohnt, meine. Urteile sind daher sämtlkh aus persönlicher Anschauung entsprossen. Insbesondere habe ich auch Gelegenheit gehabt, mir durch einen längeren Auf.enthalt in Süditalien ein Bild über die dortigen Verhältnisse zu verschaffen, die mit den in den nördHchen Provinzen herrschende.rn so gut wie nichts gemein haben. Von den Literaturangaben habe ich abg;esehen. Sie wären für · den deutschen Les.er meist doch nicht kontrollierbar. Ich glaube für mich in Anspruch nehmen zu dürfen, daß: ich ohne Voreingenomm·enheit und ohne Einseitigkeit die Tatsachen geschildert habe und daß meine Objektivität auch nicht vor. den mir nahestehenden Parteien Halt gemacht hat. Freilich lege ich keinen Wert auf das Prädikat: sine ira et studio, das mir gegenüber einer Gegenwartskritik nur als ein Lob auf Feigheit und

-7Heuchelei ,erscheint. Wie könnte ich auch! Mein Herz schlägt für alle die Werte, die der Fascismus in den Staub tritt, all mdne Gefühle sind bei den Ermordeten, den Mißhandelten, den Eingeker• kerten, den Beleidigten, bei den Opfern des Terr,ors, die kämpfein und leiden für die erhabenen Ideale der Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlfahrt. ... Während ich schreibe, tönt die Melodie der fascistischen Hymne, die heute jeder Leierkasten in Italien spielt, zu meinem Fenster herauf: giovi,nezza, giovinezza, primavera di bellezza .... Vor meinen Augen erscheint noch einmal der unglückliche Novembertag, als nach dem Handstreich sechzigtausend Fascisten ani Grabe des unbekannten Soldaten vorbeimarschierten, während eine Kapelle ununterbrochen das gleiche Lied spie_lte. Sie zogen vorüber, indem sie das Grab mit der Geste der altrömischen Legionäre grüßten, Blumen und Palmenzweige zu seinen Füßen niederwerfend, Und es war viel ehrliche Begeisterung, viel unzweifelhafter Idealismus dabei. Ach! Diese Jünglinge haben das Erbe des Toten schlecht begriffen. Der ·unbekannte So.Idat, w-enn er wirklich die Masse der Namen losen darstellt, ist gewiß nicht dafür gestorben, daß die Diktatur eines engherzigen Nationalismus sein schönes Land knechte und eine kleine Kaste die Tyrannei einer reaktionären Gewaltherrschaft darin errichte .... ,,Vielleicht war er ein Deutscher", sagte mir spöttisch ein Freund, der mit mir auf den Stufen des Denkmals stand. Ja, vielleicht war er ein Deutscher .... Aber auf welcher Seite er auch gestanden haben mag, er hat für das gleiche Ziel gekämpft: daß dieser Krieg"der letzte sein sollte, und daß auf ihn eine menschlichere, zivilisiertere Zeit des Friedens und der Gleichberechtigung folge. Dir, unbekannter Soldat, unser aller Bruder, Vorkämpfer für das bessere Europa der Zukunft, Blutzeuge für das heilige Streben nach einer reineren, helleren Epoche, dir,. unsterbliches Symbol eines he]Iren Opfertodes, widme ich die folgenden Zeilen. Turin Hanns-Erich Kaminski

Wirtschaft,Volkscharakter,Klassenund Parteienin Italien Fünfundvierzig Millionen Einwohner, eine Armee von ·250 000 Mann und eine geordnete Verwaltung gaben Italien vor dem Kriege den Rang einer Großmacht, deren Stel11t1ngnoch dadurch gehoben wurde, daß sie in dem System der europäischen Bündnisse einerseits Mitglied des Dreibundes war, andrerseits in vieler Hinsicht der Entente oordiale nahestand, sowohl durch ihre Abneigung gegen Oesterr,eich-Ungar.n, als auch durch die geistigen Beziehungen, die i'hre gebildeten Schichten mit Frankreich verknüpften. In Wirklichkeit konnte das Königreich sich durchaus nicht mi.t England, Deutschland, Frankreich, Ru.Bland oder sogar OesterreichUngarn messen, hinter denen allien es an innerer Stärke rurückstand~ Schon sieine Geographie, diese langgestreckten, überaU off,enen Küsten, benachteiligte es gegenüber den Staaten, die durch, ihre Flotte eine starke Stellung im Mittelmeer einnahm,en. Das ist auch der Grund, warum Italien, solange die gegenwärtige K!onstellation der europäischen Mächte anhält, sich niemals in F·eindschaft mit Großbritannien setzen kann. Es wäre offenbar Selbstmord gewesen, wenn es an der Seite der Mittelmächte am Weltkrieg teil ... g•enommen hätte. · Daru kommt sein Mangel an Rohstoffen, ha11ptsächlich an Kohle und Eis.en, der es in Abhängigkeit von den großen Pr,oduz·enten bringt. Die gesamte Mineralproduktion der Halbinsel erreichte im Jahre 1912 nur einen Wert von 94,2 Millionen Lire. Die Zahl der Minen aller Art, einschließlich der Zwergbetriebe~ beträgt 1033, in denen im Jahre 1912 48 267 Arbeiter beschäftigt waren, ,eine Zahl, die sich im Jahre 1920 auf 67 456 erhöht hat, obgleich die Produktion beträchtlich g,esu.nken, ihr Wert allerdings auf 644,7 Millionen Lire (Papier) gestieg,en ist. Ebenso aufschlußreich ist die Statistik über den Verbrauch von· Brennstoffen in der Industrie (im Jalir.e 1912). Inliindische Produktion Braunkohle, Anthrazit. Oelschiefer-Bituminosen . Torf . Steinkohle . . . . . . . Benzin . . . . . . . . Einfuhr Brenns.toffe aller Art Benzin . . . ; . Tonnen 663 812 28410 874365 3650 9 242 021 23098 Lire 6111004 314330 30 068 047 1 168 000 332 712 756 ·• 8 084 160

- 10 -·• Freilich ist auch die Industrie nJ.cht sehr umfangreich. Im Jahre 1911 wurden im ganzen K,önigreich 243 926 Fabriken gezählt, di·e 2 304 438 Personen aller Kategorien beschäftigten. Immerhin ist klar, daß der Bedarf auch dieser schwachen Industrie an Roh- . stoffen die Erzeugnisse des Inlandes beträchtlich übersteigen muß. Die Landwirtschaft vermag die sich daraus notwendigerw-eise 'ergebenden Ausgaben nicht auszugleichen. Große Strecken wenig fruchtbaren Bodens :und eine meist noch recht zurückgebliebene Bewdrtschaftung habe:n· Italien ru kei.n,emAusfuhrland machen können, obgl1 ekh 92 Prozent. seines Territoriums der Land- und Forstwirtschaft unterliegen. · · Der- Außenhandel stellt sich nach der letzten Vorkriegsstatistik vom Jahre 1913 folgendermaßen dar (in ·Millionen Lire): Einfuhr 3658 Ausfuhr 2584 Defizit 41,6% Nach den Produkten (in Tausend Lire) i. J. 1912 Rohstoffe. . . . . Halbfertige Fabrikate . Einfuhr Ausfuhr . . . 1 384 138 349 786 . . . . 675 990 579 213 Total 2 060 128 928999 Fertigfabrikate . . . . . 858 822 743 962 723 966 Lebensmittel und lebendes Vieh . 782 972· Schließlich sei noch eine Zahl mitgeteilt, die beweist, daß dem defizitären Außenhandel keine bedeutende Kapitalanhäufung im Inland gegenübersteht: Im Jahre 1912· betrugen die Depositen in den Sparkassen jeder Art 5,~ Millionen, was 165,23 Lire auf den Kopf der Bevölkerung ausmachte. Ein wesentlicher Teil der Fabriken, Banken und Versicherungen arbeitet denn auch mit ausländischem Kapital. Besonders in Süditalien ist inländisches mobiles Kapital in nennenswertem Umfange nicht vorhanden. Erst im laufe des Krieges hat das Geld- und Kreditwesen hier einen größeren Aufschwung zu nehmen begonnen. Die natürliche Armut des Landes macht die Zunahme sejner' Bevölkerung zu einem ernsten Problem. Seltsamerweise ist diese Zunahme · sehr schwankend-. .Jn ständig.er Zunahme befindet sich dagegen die Auswanderung, das einzige Aushilfsmittel, um der relativen Uebervölkerung ru entgehen. Während von 1908 bis 1912 jährlich 601800 P,ersonen auswanderten, war die Zahl im Jahre 1913 auf 872 600 gestiegen 1Und ie Regierungen haben dieses mehr prak~ tische als im weiteren Sinne nützliche Aushilfsmittel stets um so unbedenklicher gefördert, als ihnen dadurch meist Arbeitslose, also Unzufriedene, vom Halse geschafft wurden. Diese wenigen Zahlen genügen, um den noch beinahe vorkapitalistischen Charakter Italiens darzutun, ~us dem sich die ver-

- 11 schiedenen Klassen ergeben. Die Schwäche des Industriekapitals bedingt naturgemäß auch die Schwäche des Proletariats, und das verhältnismäßig kräftigere Handelskapital bringt ja nur einen an Zahl kleinen Kreis in seine .unmittelbare, deutlich sichtbare Abhängigkeit. Außerdem befinden sich die kapitalistischen Zentren ausnahmslos in Oberitalien, so daß ihre Gegensätze die· Provinzen, die südlich der Emilia liegen, direkt überhaupt nicht berühren. Wenn sie trotzdem von entscheidendem Einfluß auf den .Rhythmus des öffentlichen Lebens s,ind, so liegt das einmal an der Tatsache, daß sie sich auf derselben Linie mit dem gesamteuropäischen Klass·enkampf befänden, zum andern daran, daß Kapitalisten und Proletarier den vorgeschrittensten u;nd bewußtesten Teil der Bevölkerung bilden. Di1 e große Mehrheit des italienischen Volkes kennt die kapitalistischen Probleme nur aus den Zeitungen, während ihre ·eigenen Interessen andere Grundlagen haben. Ihr Klassenkampf Hegt im wesentlichen zwischen Grundbesitzern und landlos,en Bauern, spielt sich also in völlig verschiedenen Formen von dem in der großen Industrie ab. Freilich werden die Umstände, die sich aus dem Verstreutsein des Landproletariats, aus seiner Bodenständigkeit und aus seiner Unbildung ergeben - die Zahl der Analphabeten betrug im Jahre 1911 noch 16 Millionen gleich 46,7 Prozent der Gesamtbevölkerung -, iim gewissen Sinne durch das natürliche Rebellentum ausgegliche11, das ebenso eine Folge des Volkscharakters wie der revolutionären Tradition Italiens ist. Sein eigentliches Gepräge erhält das Land aber weder von den· Kapitalisten der verschiedenen Kategorien, noch von den Proletariern, seien es industrielle oder agrarische, sondern von jenen breiten Schichten, die dazwischen stehen. Das italienische Kleinbürg-ertum hat sich bei der ökonomischen Struktur der Halbinsel eine Unabhängigkeit bewahren können, die es in den Industrieländem längst verlor,en hat. Die kleinen Kaufleute, Beamten, Handwerker, Angestellten lebten wenigstens bis rum Kriege bei bescheidensten Ansprüchen in einem gewissen Wohlstand, der ihnen ein Selbstbewußtsein zu entwickeln erlaubte, das die gleichen Schichten seit 1848 sonst nirgends· mehr besitzen. Dieses Kleinbürgertum konnte sich noch Ideale leisten, die_ aus ihnen hervor~ gehenden Intellektuellen brauchten sich noch nicht in die Hörigkeit des Kapitals zu begeben, ohne darum fürchten zu müssen, zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben ru werden. Dieses Kleinbürgertum ist der wahre J'iäger der itaHenischen Oeffentlichkeit. Der Kapitalismus herrschte, weil er am einheitlichsten und am besten organisiert von den nichtproletarischen Gruppen war, aber er mußte sich dazu des Kleinbürgertums bedienen, das ihm niemals gestattete, reaktionär. im vollen Sinne des Wortes zu sein. Um die Entw-ick-

- 12 - lung, di,e zum Fascismus geführt hat, zu verstehen, ist es daher, unumgänglich, sich ein Bild von dem politischen Charakter des Kleinbürgertums zu machen. Die Mannigfaltigkeit der· Natur des Landes, die durch wi,rt- .schaftliche Notwendigkeiten nicht vereinheitlicht wird, muß den sich daraus ergebenden Mangel an g,emeinsamen politischen Gesichtspunkten noch v,erstärken.- Italien hat nicht die ausg,edehnten Ebenen, auf denen sich die Reiche des Nordens gleichsam einem Naturgesetz entsprechend gebildet haben, es hat auch nicht die großen Industrien und Kapitale, die sich imm,er weitere Märkte unterwerfen und dort die gleichen. Gesetze und Verkehrsmöglichkeiten schaffen, um die Verbtaucher für ihre Erze'ilgnisse unter den günstigsten Bedin,gungen erreichen zu können. Seine Nat:ir begünstigt vielmehr einen Geist der Kleinstaaterei und der partikular,en Interessen. Diese romantischen Berge, diese 'holden Täler, dies,e kleinen Städte, wo seit Jahrhunderten. dieselben Familiien in winkligen Gassen wohnen und wo das ganze öffentliche Leben sich auf einem Platze oder einer Straße abspielt, die uns w:ie die Szenerie einer Spieloper erscheinen, unterscheiden sich immer auf eine Weis,e, je nach der Landschaft, in der sie gelegen sind. Unteri den hundert Städten des Landes ist Mailand die einzige Groß,stadt mit europäischen Maßstäben, wo das Leben jenen überaus modernen Zusamm·enklang aus Arbeit und Vergnü,gen findet. Die übrigen haben sich, gena,u wie die Provinzen, gewisse Eigenarten bewahrt, in denen der ursprüngliche Patriotismus des Italieners wurzelt. Turin, die Elegante; Venedig, die Schöne; Genua, die Reiche; Florenz, die Stolze; Rom, die H,eilige; Neapel, die Fröhliche; Palermo, die Glühende; Messina, die Vulkanische - das sind die Merkmale, auf die jeder ihrer respektiven Bewohner stolz ist. Hier ·liegen die Quellen einer Heimatliebe, die immer .zuerst der Vaterstadt und dann dem Staate gilt. Weniger als jedes andere Land besitzt Italien eine gemeinsame materielle Basis, sein Gefüge als Nation beruht im wesentlichen auf der Sprache und auf der Trru-· dition historischer, geistiger, künstlerischer und kirchlicher Erinnerungen. Auf dieser natürlichen wid wirtschaftlichen Grundlage beruht der bis zum Anarchismus individuelle Charakter des italienischen Volkes mit seiner großartigen Schätzung Jeder Persönlichkeit und mit seiner vornehmen Tol,eranz gegenüber jeder Eigenart. Dar.um ist es das Volk der Künstler, im Innersten abgeneigt jeder Unif.ormierung, heiter und eindrucks-fähig, leicht entflammt, freilich auch leicht geblendet, friedliebend und vertrauensselig, · s.tolz auf die warme Sonne und die hehren Monwnente seines Vaterlandes, z:.i dem wdr blasierten Europäer aius1W1sern babelischen Städten kominen, um von jener süßen Romantik zu trinken, die aus unserer Nonnalwelt verschwunden ist.

-13Darum ist es auch das Volk, das j.eder starken Individualitäi zujubelt, das immer seine großen Männer hat oder sie skh schafft. Nirgends ist es so leicht, berühmt zu werden, wie in ltalien, wo jedermann immer irgendeinen Messias erwartet und wo jeder sich mit Stolz zu seinem Apostel macht. Daher gibt es hfor aber auch den Mut, aus der Reihe der Mittelmäßigkeiten herauszutreten und such zu sich srelbst und zu seinem Ehrgeiz zu bekennen. Andererseits bedingt das freilich auch eine allgemeine Disposition. zum Aufstieg von Abenteurern und unechten Talenten, deren Talmiglanz nur durch eine wilde Energie seine Leuchtkraft erhält. Es ist klar, daß auf einem solchen Boden große Parteien mit großen Gesichtspunkten und umfass-enden Programmen nur schwer entstehen können. Ungeachtet ihrer nach französischem Muster straff zentralisierten Verwaltung steht die Politik Italiens völlig unter dem Einfluß örtlicher Koterien und landschaftlicher Interessen. Von hier aus kommen die Abgeordneten in die Kammer, wohin sie als Gegengewicht zu den heimatlichen Kirchturmss-orgcn allein ihren Ehrgeiz mitbringen. Die Dynastie spielt re.chtlich und tatsächlich eine zu geringe Rolle, um an diesen Verhältnissen etwas zu ändern. Bis auf den heutigen Tag sind die Folgen der Tatsache spürbar, daß Italien· auf revolutionärer Grundlage geeinigt ist und daß es der ganzen Kunst Cavours bedurfte, um zahlreiche seiner bedeutendsten Führer von der außenpolitischen Notwendigkeit einer Monarchie zu überzeugen. Das italienische Volk hat durchaus das Bewußtsein, daß' der König, wie es in seinem Titel heiß,t, König ist durch die Gnade Gottes und den Willen der Nation, was sein Schicksal um so mehr in die Hände des Volkes legt, als die Gnade Gottes schwer bewefäbar und sicher kein sehr starker Schutz gegen einen Umsturz ist Mazzini und Garibaldi, die Vorkämpfer der Einigung, waren Republikaner, und Crispi umging noch als Ministerpräsident d:e heikle Frage, ob er Monarchist oder Republikaner sei, mit. der stolzen Antwort: ,,Ich bin Crispi." Unbedingt royalistisch aus Theorie war eigentlich nur die kleine Partei der Nationalisten, mit der sich der Fascismus im Februar 1923 verschmolzen hat, nachdem· er ihre Anschauungen nach und nach angenommen hat. Der; eifrige Monarchismus der Liberalen dagegen entspringt keineswegs einer tiefliegenden Treue zur Dynastie, er ist lediglich das Ergebnis des Konservativismus dies·er kapitalisilischen Parteien, die an der Erhaltung alles Bestehenden interessiert sind. Die Nationalisten waren vor dem Kriege - abgesehen von den Sozialisten - überhaupt die einzigen, deren politisches Programm auf einer allgemeinen Weltanschauung beruhte, einer rein romantisch-ästhetischen Weltanschauung, die in ihren Umrissen wie nach ihrer Herkunft mehr literarisch als politisch war. Die Masse der

-14übrig,en Parteien waren stets nur Gruppen, die sich um einen Führer scharten, und deren Pofitik im wesentlichen durch einen praktischen Opportunismus und durch den Drang zur Krippe bestimmt wurde. Die ausgesprochene Rechte war niemals sehr stark. Der breite Sumpf der Kammer wurde und wird vielmehr von einem Dutzend liberaler und demokratischer Parteien gebildet, die in ihren Tendenzen noch alle die Strömungen widerspiegeln, die vor fünfzi'g Jahren herrschten. Der kapitalistisch-liberale Charakter des Staates blieb in den ,entscheidenden Punkten immer unangetastet, und die Parteien begnügten sich damit, die verschiedenen von ihnen vertretenen Interessen: schwerindustrielle und leichtindustrielle, ka:ifmännis.che und agrarische, kirchliche und soziale so friedlich auszukämpfen, wie es das lateinische Temperament gestattet, was um so leichter möglich war, als sie ein gewisses Gleichgewicht be-. wahrten. Der große 'Mann dieser Parlamente war Giovanni Giolitti, der typische Vertreter des kapitalistisch - liberal - demokratischen Systems, ein ausgezeichnetes Verwaltungstalent und ein erfahrener Skeptiker, der die wirklichen Kräfte seines Landes niemals über- .schätzte. Er setzte den ·Kampf gegen den Vatikan im Geiste des LiberaLismus fort und bemühte sich, die gefährlichen Kräfte der immer zahlrekhen Arbeitslosen durch eine weitgehende Unterstützung der Auswanderung abzulenken. f remdkörper in dieser Beschaulichkeit der kleinen Interessen und persönlichen Wünscheleien, sozusagen die Werwölfe in der Idylle waren allein die Sozialisten. Aber auch die Sozialisten konnten sich selbstverständlich nicht den natürlichen, ethischen und wirtschaftlichen Bedingungen ihres Landes entziehen. Infolgedessen fanden ihre Ideen gewissermaß.en eine natürliche Grenze, wo das Industrieproletariat aufhörte. Es versteht sich, daß der Sozialismus nicht nur eine Bewegung des Industrieproletariats ist„ aber hier, wo, w.ie schon das Kommunistische Manifest darlegt,. die Arbeitgeber selbst die Armeen sammeln, die sie vernichten werden, liegen doch die stärksten Wurzeln seiner Kraft. Die ver-- streuten, ungeschulten Landarbeiter sind für seine Propaganda.. schwer erreichbar, und ihre Unbildung, die in ltaliien häufig noch völliger Analphabetismus ist, macht sie zu einer Durchdring-.1ng s-einer wissenschaftlichen Idee kaum fähig. Die sozialistische Partei. war daher hauptsächlich in Norditalien heimisch. Indessen auch dieses, meist noch in einem bodenständigen .Familienleben wurzelnde. Proletariat ist sehr verschieden von jenen gewaltigen Armeen Heimats- und Herkunftsloser, die sich in den großen Industriezentren der Welt zusammenfinden. Aus allen diesen Gründen war die italienische sozialistische Partei vor dem Kriege viel revolutionärer als die Parteien in den andern Ländern, hauptsächlich in Deutschland. Sie unterschied

-15sich ferner von diesen Parteien durch die große Zahl von Intellektuellen, die - eine Folge der revolutionären Traditi,onen des Landes - in ihren Reihen standen, und durch den syndikalistischen Einschlag, den der Sozialismus in den lateinischen Ländern hat. Es gab Zeiten, wo sie praktisch dem Anarchismus ziemlich na:he kam, obwohl sie niemals ihr marxistisches Programm verließ. Aber ö.m großen ganzen hat die sorial,istische Partei stets ihre Pflicht getan, sowohl auf politischem, als auC'h auf gewerkschaftlichem und kulturellem Gebiet. Kein schönerer Beweis für die Wirkung Jhr·er Arbeit, als daß ihr Hunderttausende treu geblieben sind und sJch in heldenhaftem Opf.ermut auch in den schweren Stunden der Gegenwart zu ihr bekennen. Eine andere Partei, die auf einer allgemeinen Weltanschauung basiert, ist der nach dem Kriege (1919) gegründete partito popolare. Ihre Gründer Slind jm w{esentLichendie gleichen Pers-onen, die im Jahre 1903 unter Führung von Romolo Murris die democrazia cristiana gründeten. Aber der Versuch, die Ki-rche zu demokratisieren und mit dem sozialistischen Geist des 20. Jahrhunderts r.1 erfüllen, hatte damals ein rasches Ende g~funden. Schon dem mehr humanistischen als humanitären Leo XIII. war der religiöse ~..1nd poldtische Modernismus zu weit gegangen, und unter dem orthodoxreaktionären Pius X. war der democrazia crisüana, die weder fähig noch willens war, ein Schisma zu proklamieren, nichts anderes übrig geblieben, als sich unter das Joch der katholischen Spitzenorganisation, der azione cattollca, zu begeben, wo sie nur eine sekundäre Rolle spielte. Indessen noch Pius X. selbst mußte in sein konservatives Programm eine Bresche legen, und zwar gerade wegen seines Konservativismus. Er gestattete 1913 den reaktionären Klerikalen, den berühmten Wahlpakt mit Giolitti zu schließen, der als Damm gegen die Gefahr eines Sieges der Radikalen und Sozialisten dienen sollte. Das sofortige Resultat war freilich ein Erfolg der Rechten; aber nachdem die katholischen Italiener einmal nicht nur als Italiener, sondern auch als Katholiken an die Urne gegangen waren, zeigte sich bald, daß. sie sich nicht nur zum Vorspann für die Interessen der Liberalen hergeben wollten. Es war also nur eine notwendige Fortsetzung dieser Haltung, wenn Benedikt im Jahre 1919 die Gründung des partito popolare zuließ. Benedikt und sein Kardinal-Staatss•ekretär Gasparri, der a1Uchunter Pius XI. die vatikanische Politik leitet, standen jedoch beträchtlich weiter links als der „heilige" Pius X.; die revolutionären Einflüsse des Krieges waren außerdem auch im katholischen Lager, besonders unter den weißen Gewerkschaften, sehr stark. So war es möglich, daß Luigi Sturzo die Popolari als eine radikale demokratische Partei gründen konnte. Die konservativen und die kaum weniger reaktionären „gemäßigten" Klerikalen machen schließlich mit, weil sie sonst überhaupt auf jede Bedeutung verzichtet hätten.

-16In dieser verschiedenartigen ZUsammensetzung der Partei war jedoch von vornherein ihr zweideutiger und unentschlossener Charakter begründet. Ihr Programm ,enthält alle Forderungen der Demokratie: Ptoportio~alwahlrecht, Frauenwahlrecht, Provinzialautonomie, Landaufteilung, Schulzwang, Anerkennung der Gewerkschaften, Produktionskontrolle usw. Die r1eligiösen Ziele - Reli- ._gions'll:nterricht, keine Ehescheidung - kommen dabei erst in zweiter .Linie. Nicht einmal in ihrem Namen kommt das Wort christlich oder katholisch vor, sie heißt lediglich Italienische Volkspartei. Dieses partikularistisch - demokratisch - soziale Programm brachte dhr sofort eJnen gr<>ßen Wahlerfolg, und sie foonnte mit hundert Abgeordneten in die Kammer einziehen, in der sie bis ~um Siege des Fasaism111sder ausschlagg 1ebende Faktor· war. Zu einer positiven Leistung war die junge Partei jedoch - vielleicht wegen ihrer Jugend - nicht fähig. Ohne ihr Auftreten hätten die Sozialisten ohne Zweifel die M,ehrhieiiterhalten, und iinWirklichkeit siind die Popolari die Retter der Verfas~ung gewesen. Aber während ihr rechter Flügel immer nach Giolitti schielte, war ihre Linke nicht weniger revolutionär und nicht einmal w,eniger sozialistisch ,als die Sozialisten. Und Don Sturzo, der ein genialer Taktiker, aber nur ein mittelmäßiiger Theor,etiker ist, vermochte zwar stets diese verschiedenen Tendenzen unter einen Hut, jedoch nicht auf eine gerade Linie zu bringen. Si,e nahmen an aHen Regierungen teil, um sie dann dessenungeachtet zu stürz,en, aber immer zu den Zweideutigkeiten des Jesuitismus bereit, ohne Wagemut und ohne Initiative, woHten sie niemals eine witklkhe Verantwortung übernehmen. Sie hätten gern die Früchte einer sozialistischen Revolution gepflückt, aber sie hüteten sich wohl, sich zu kompromittieren. Sie haben ein sehr radikales Programm, aber sie sind beileibe keine Revolutionäre; sie sind gern bereit zu gewinnen, aber sie wollen nichts. riskieren. Sturzo verfolgt sicher mit ehrlichem Feuer das Ziel,. einen Staat kleiner Landbesitzer zu schaffen -und den Arbeitern in den volksparteilichen Gewerkschaften Spielraum zur Erkäµipfun_g ihrer ber,echtigten Ford~- rungen zu geben, aber neben iihm stehen die vatikan;ischen Diplomaten, die opportunistischen Routiniers, di,e frommen Kapitalisten, würdige Nebenbuhler der liberalen und demokratischen Sumpfbewohner. Die Herrschaft des Parlaments und der Parteien wird jedoch immer wieder durch die öffentliche Meinung in Frage gestellt, dde sich in Italien mit einer Vehemenz ohnegleichen rur Geltung bringt. Sie ist der wahre Souverän des Staates, ein irrationaler und leidenschaftlich-er Souverän, leicht beeinflußbar und zu Ueberschwenglichkeiten neigend. Es war die öffentliche Meinung, die gegen de:n · Willen der Krone, der Kammern, der Parteien den Eintritt. in den Krieg erzwang; es war die öffentliche Meinung, die die soziale

-17Revolution f-0rderte, die die Sozialisten' nicht verwirklichten; es war die öffentliche M-ein:ung,die den Fascismus nach Rom trug. Aberselbstverständlich ergibt sich die jeweilige Stimmrung immer aus der politisch-ökonomischen Gesamtlage; sie ist, wie überall, so auch in Italien, hier nur stürmischer und widerstandsloser, immer nur der Ausdruck der Leiden und Wünsche, der Sorgen und Hoffnungen des Volkes. Die Nachkriegskrise Das unheilvolle Jahr 1914 brachte Italien in eine peinliche. Lage. Mit Ausnahme Amerikas nahmen sei~e bedeutendsten europäischen Handelspartner am Kriege teil, und die Fragen der Konterbande und Meereskontrolle erschwerten auch den Handel mit den Vereinigten Staat-en ungemein. Insbesondere von Brennstoffmitteln sah skh die Halbinsel nahezu entblößt, da England und Deutschland nur in beschränktem Umfange zu liefern vermochten und der zur V•erfügung stehende Frachtraum auß,erdem beträchtlich verringert war. Die Sicherung einer genügenden Kohleneinfuhr war denn auch neben dem Irredentismus und der Moral ein wesentlicher Teil der Propaganda, durch die die lnterventionisten den Eintritt in den Krieg erzwangen. Indessen zeigte sich rasch der furchtbare Fehler dieser Rechnung. Die Kohlen kamen nun zwar an, aber die cigene Produkti'°n aller Kategorien nahm beträchtlich ab, während die Ausgaben zu immer größeren Summen anschwollen. Der Staatshaushalt hatte im Etatsjahr 1913/14 mit einem Defizit von 164 Millionen abgeschlossen; die konsolidierte Schuld betrug annähernd 15 Millionen, die umlaufende rund eine Milliarde Lire. Die folgenden· Zahlen zeigen, wde grundlegend sich das Bild durch den Krieg verändert hat. Das Defizit des gesamten Etats betrug an Millionen Lire: 1913/14 . . . . . . . 164 1919/20 . . . . . . . 7 886 1918/19 . . . . . . . 22 776 1920/21 . . . . . . . 17 409 1921/22 . . . . . . . . 15 780 Ebenso vermehrten sich die Staatsschulden : Konsolidierte Schuld Umlaufende Schuld (ohne Auslandsschuld) (in Millionen Lire) Jahr 1914 . 14840 926 1919 . 34 416 25 797 1920 . 52 308 22 188 1921 . 54 971 31 388 1922 . 56 600 33 939 1923 . . 60 097 36 332 Diese Statistik ist jedoch nicht vollständig, da sie die in Eng-- land wid den Vereinigten Staaten kontrahierten Anleihen nicht Kaminski 2

- 18 _· berücksichtigt.· Der genaue Stand der gesamten Staatsschuld stellte sich im· einzelnen vielmehr folgendennaßen dar (Stand vom 1.April 1923 in Millionen Lire) : Vorkriegsschuld . . . . 13,312 Innere Arbeiten . . . • . . 36,042 . Kurzfristige Schatzscheine 25,021 Langfristige Schatzscheine . . . . 9,827 J?apiergeld zu Lasten des Staates . 10,272 Auslandsschulden (al pari) . • . 22,081 Total 116,555 Zieht man in Betracht, daß, die Auslandsschuld auf Papiermark umgerechnet mindestens den vierfachen Wert darstellt, so erhöhte sich in Wirklichkeit die Summe um .rund 88 Milliarden auf 204,6 Milliarde~ Lire. Dageg1 en haben sich die Einnahmen des Staates nur sehr langsam v,ennehrt, und eigentlich erst in den beiden letzten Etatsjahrendurch V•ermehr:ung der Steuern (hauptsächlkh der Verbrauchssi!euern) 11.t11Vderbesserung der Einhebung sich den gewachsenen. Ausgaben anzugleichen begonnen. Im einzelnen betrugen sie (in .Millionen Lire) : 1913/14 . . . • • . . . 2,524 1919/20. • . . . . .15,207' 1918/19 . . . . • . • . 9,676 1920/21 . . . . . . . . 18,820· 1921/22 . • . . . . . . . 19,678 Nicht weniger bezeichnend als die Entwicklung des Etats ist diejenige des Außenhandels, wobei man sich vor Augen halten muß., daß di,e offizielle Statistik von der verminderten Kaufkraft der Lira keine Notiz nimmt. Der gesamte Spezialhandel, mit Ausnahme von Gold und Mün~en, verteilte sich folgendermaßen (in Millionen Lire):·: Jahr Einfuhr Ausfuhr Ueberschuß der Einfuhr 1913 . . . 3,659 . . . 2,584 . . . 1,134 1919 . . . 16,623 • . . 6,066 . . . 10,557 1920 . . . 26,822 . . . 11,774 . . . 15,048 1921 . . . 17,267 . . . 8,275 . . . 8,~92 Parallel mit dieser Entwicklung der · Volkswirtschaft ging die-- Veränderung der Valuta vor sich, die am 31. Dezember 1920 ihren Tiefstand erreichte, um sich dann langsam etwas zu erholen. Seit einiger Zeit hält sie sich ziemlich gleichmäßig auf ungefähr dem vierten Teil ihres Friedensstandes. Hier eine Aufstellung über den. Preis des Dollars in Lire: 31. März 1919 5,26 ,, ,, 1915 5,78 ,, ,, 1917 . . . 7,81 ,, ,, 1919 . . • 6,97 ,, ,, 1920 . 19,11 31. Dez. 1920 31. März 1921 ,, ,, 1922 ,, ,, 1922 ,, ,, 1924 29,28 24,34 19,66 26,10 . 22,35 Die durch den Krieg verursachte Vermehrung der Ausgaben und Verminderung der Erzeugung hätte schon genügt, um die• schwachen Grundlagen der italienischen Volkswirtschaft zu er--.

-19schüttern. Nun kam- noch die Handelskrise dazu. Ihre Ursachen und Folgen kann ma9 als eine Zwischenstufe der Erscheinungen bezeichnen, die sich einerseits in den reichen Siegerstaaten, anderer- . seits in den Ländern der Besiegten zeigten. Wie in England und Amerika machte sich die Zerstörung des mittel- .und osteuropäischen Absatzgebietes bemerkbar, nach dem Italien in der Hauptsache seine Südfrüchte und Seiden geliefert hatte, während der Tiefstand der Lire die Rohstoffe ebenso schwer erschwinglich machte wie in Deutschland, Oesterreich, Polen und Rußland. Mit andern Worten: Während das ganze Geschäftsleben stockte, stiegen die Preise aller Waren einschließlich des Brotgetreides, das in beträchtlichen Mengen eing,eführt werden mußte. An Hand der Statistik kann man den Höhepunkt der Krise ganz genau auf den ersten Teil des Jahres 1922 datieren, also auf den Zeitpunkt, in dem der fascistische Vormarsch die letzte Spr,osse seiner Erfolge erreichte. Drei Tatsachen kennzeichnen diesen Augenblick. · 1. Die Entwicklung der Preise, die beinahe auf das Fünffache des Friedenswertes stiegen. Der Index für Turin, der die Kosten der Lebenshaltung mit 100 für 1913 annimmt, berechnete s•ie für April 1922 mit 470, für Januar 1924 mit 466; 2. die Arbeitslos1igkeit, die ihren Höchststand am 1. FebrLiar 1922 mit 606 800 Beschäftigungslosen erre-i.chte(davon allein 148 600 · in der Emilia, dem Zentrum des Fasdsmus); 3. der Zusammenbruch der Banca /to,liana di Sconto, die am Jahresschluß 1921 ihren Bankrott erklärte .. Dieser Zusammenbruch einer der bedeutendsten Banken des Landes wurde zum Teil gewiß durch eine allzu leichtfertige Geschäftsgebarung herbeigeführt, aber im wesentlichen war er doch das Resultat der industriellen Krise. Die Banca di Sconto beschäftigte sich nämlich nach deutschem Muster im großen Maßstabe mit der Finanzierung von Industrieunternehm,en, und bes,onders mit der llva war sie durch pers•önliche und materielle Bande eng verknüpft. /lva und Ansaldo s,ind die beiden größten Gesellschaften der Schwerindustrie, die vor 1915 keine besondere Bedeutung hatten, aber durch den Krieg zu einicr künstlich~n, nkht auf natürlichem Absatz beruhenden Blüte gelangten, die ihnen gestatteteiJ ihren Wirkungskreis immer weiter auszudehnen und sich in die verschiedensten Glieder des Produktionsprozesses einzuschalten. Das Aufhören der Kriegslieferungen, die Schwierigkeiten der Umstellung, die Verteuerung der Rohstoffe und der Mangel an ;Märkten machten jedoch diesem Aufschwung ein rasches Ende. Die /lva fallierte völlig, und die Ansaldo war tatsächlich in derselben Lage, obgleich sie den formellen Bankrott vermeiden Ivonnte. Die Banca di Sconto war das wichtigste Opfer, das diese Krachs nach sich zogen, und sie riß wiederum eine Anzahl anderer Institute nach 2*

- 20- . sich. Die '.Banca 'd1 Sicilia muß.te· gleichfalls ihre Zahlungsunfähigkeit erklären, und die Banca di RJ;ma, d;is drittgrößte Institut des Königreichs, vermochte sich nur mit Hilfe des Staates ,über Wasser zu halten. Wie ·..weit im einzelnen die Hilfsaktion des Staates gegangen ist und ·auf welche Banken und Gesellschaften sie sich erstreckte, ist der Oeffentlichkeit nicht mitgeteilt worden~ · aber das, was bekannt ist, genügt„ um die Erschfrtterung des .ganzen Geschäftslebens darzttrun. · Die .sozialen Folgen dies,er Lage kann man f.olgendermaßen ~ennzeichnen: Die Kapitalistett waren aufs äußerste geschwächt. Von einem . Angriff, auf die öffentlichen Einrkhtungen konnt9 keine Rede sein. Sie hatten nur den Wunsch nach. Ruhe, Arbeitsmöglichkeit und womöglich Staatshilfe. Die Arbeiter litten naturgemäß am me.isten unter der Krise, da auf ihnen in erster Linie Arbeitslosigkeit und Teuerung lasteten. Auf der- andern Seite hatte ihnen der Krieg ein größeres Selbstbewußtsein und neue Ansprüche eingeflößt. Insbesondere die Landarbeiter Süditaliens waren in ·Gegenden einer vorgeschrittener,en ZdviHsation gekommen, hatten ihren Gesichtskreis erweitert und sahen demgemäß die Dinge mit viel kritischeren Augen als bisher an. Eine Folge dieser Umstände war die Wohnungsnot, die ja in der Hauptsache das Er~bnis ein.er relativetl U·eberbevölkerung ist. Die Oemobilisierten fanden nur zu oft auf dem Lande keine Arbeit,. zum Teil wünschten sie auch nicht, in das enge Dasein des Laprl-1 arbeiters zurückzuroehren. In jedem Fall drängten s.ie in die Städte. Die Bautätigkeit hatt,e während des Kneges selbstverständlich gestockt, nun war sie durch die Verteru,erungdes Materials ungemein erschwert, w.ährend die allg,emeinen Ansprüche an die Unterkunft beträchtlich gestiegen waren. . Da.zu war das alte Ventil der Auswanderung verstopft. ht den überseeischen Ländern führte die Krise wie die Furcht vor der Einschleppung des Bolschewismus dazu, daß die Einwander.1ng begrenzt wurde. Und auch die Kosten der Reise waren durch den Unterschied der Valuta nur für verhältnismäßig w,en,ige aufzabringen. Oie durch alle diese Einflüsse hervorgerufene Stimmung kann man wie an einem Thennometer an der Streikstatistik ablesen. Streiks In der Industrie In der Landwirtschaft Jahr Zahl der Streiks Zahl der Streikenden Zahl der Streiks Zahl der streikenden 1919 1626 1078 869 208 505128 1920 1881 1267953 189 1045 732 1921 1045 644564 89 79298

- 21 - Das Nachlassen im Jahre 1921 erklärt sich aus der Arbeitslosigkeit, die einmal die Zahl der Beschäftigten verringert hatte, zwn andern die Wirkung der Arbeitseinstellungen abschwächte. Nimmt man die politische Verwirrung in den Reihen des Proletariats, seinen Mangel <eines einheitlichen Vorgehens, seine ziellosen, Einzelaktionen zu diesen rein ökonomischen Tatsachen, so wird ohne weiteres klar, daß: es im Herbst 1922 wirtschaftlich und geistig und also auch politisch am Ende seiner Kraft war. Am einschneidendsten war j,edoch die Wirkung der Krise auf die Mittelklassen. Die einzelnen Kapitaljsten waren schließlich trotz aller Schwierigkeiten noch nicht ruiniert, die Proletarier, gewöhnt, dem Hunger ins Auge zu sehen, sahen sich keiner. neuen Situation; gegenüber, sondern empfanden nur stärker akzentuiert die alten Impulse des Klassenkampfes; das Kleinbürgertum dagegen wurde aus einem Zustand auf gescheucht, den es für unerschütterlich gehalten hatte. Der Rückgang des Realwertes von Zinsen und Gehältern, die Arbeitslosigkeit, die Teuerung brachten die Mittelschichten nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geistig völlig aus dem Gleichgewicht. Sie sahen sich proletarisiert, ohne Proletarier, geworden zu sein, ein Prozeß, den sie um so weniger begriffe:n',, als das Aufkommen einer ganzen Schicht von neuen Reichen die Gesetzmäßigkeit dieses Vorgangs Lügen zu strafen schien. Man kann von einem Ertrinkenden nicht gut verlangen, daß er sich um die Ursachen der Ueberschwemmung kümmert; er wird sich allein nach einem Rettungsring umsehen, der ihn vom Tode errettet. Das Kleinbürg,ertum wollte seine alte soziale Stellung und seine wirtschaftliche Sicherheit wiederhaben, und es folgte jedem, der ihm dazu ru verhelfen .schien. Seine Unzufriedenheit, seine Aufgeregtheit kulminierten im Haß gegen die Schieber, gegen den Nachbarn von gestern, der heute in Glanz und Reichtum saß .. Es ist nur natürlich, daß dieser Haß seine gesamte politische Einstellung bestimmte. Seine Ideologie war niemals direkt antirevolutionär gewesen. Jetzt wurde es tatsächlich revolutionär oder - um exakter zu sein - rebellisch. Die sozialistisdte Welle Das Selbstbewußtsein der Massen ging aus dem Kriege womöglich noch verstärkt hervor, während die Autorität des Staates, wie in allen Ländern, ges~hwä~ht war. Schon in den letzten Jahren des Krieges w.ar die Müdigkeit groß· gewe:Sen, nunmehr zeigte sich, daß auch :der Friede, ja stugar der Sieg, eiue Enttäusc.hWig war„ Jene, die dai Krieg gemacht und mit .ihren Fanfaronaden begleitet hatten, waren unzufrieden über das Er,gebnis der Friedensverträge,

- 22 - bei denen Italien ihrer Meinung nach übervorteilt wurde. Es begann ein erbitterter Streit zwischen den Verbündeten, bei dem man sich .gegenseitig die erlittenen Verluste und gebrachten Opfer vorrechnete und die gemachten Gewinne verglich. In ohnmächtiger Wut sahen die kriegsfreundlichen Parteien, wie Frankreich seine politische und wirtschaftliche l\tlacht verstärkte, England sein Kolonialreich ausdehnte, Jugoslawien ein Großstaat mit Rechten auf die Adria wurde, Griechenland als starke Mittelmeerm.acht emporstieg, indes Italien neben dem „abgerundeten" Trentino nur Albanien und einen kleinasiatischen Bezirk von Adali.a erhielt, Ge• biete, die es aus militärischen, politischen und finanziellen Gründen noch dazu bald. aufzugeben gezwungen war. Die großen Massen andererseits begriffen, daß das ganze System der kapitalistisch-imperialistischen Staaten die Quelle aller Uebel, der eigentliche Schuldige des Weltkriegs und seiner bitteren Folgen war. Sie blickten nach· Rußland, Deutschland, Oesterreich, Ungarn, wo die Völker selbst ihre Schicksale in die Hand genommen hatten. Die Stunde des Sozialismus war gekommen. Das Ministerium Orlando, das den nationalen Widerstand nach der Niederlage von Caporetto organisiert hatte, fiel. Sein Schatzminister Nitti bildete die neue Regierung. Es gibt kein ehrenderes Zeugnis für Nitti, als daß. er und nicht· Turati oder d' Arragona, Serrati oder Bombacci der von den Fascisten meistgehaßte Mann wurde. Gegen ihn in erster Linie richteten sich die politischen Angriffe und die _persönlichen Verleumdungen, jene elende Jauche, mit der die Reaktion immer ihre Feinde zu übergießen pflegt. Daß er sein Vermögen rechtzeitig nach Amerika gebracht haben und so an der Verschlechterung der itaHenischen Valuta interessiert gewesen sein sollte, war noch nicht die gemeinste dieser Verleumdungen, aber sicher war die dümmste, daß er als verkappter Bolschewist nach der Republik strebe, um sich zu deren Präsidenten zu machen. Tatsächlich ist Nitti nicht im entferntesten Sozialist, er sah nur vernünftigerweise die wirtschaftlichen Ursachen der Krise und erkannte wohl, daß die sozialen Forderungen der Zeit Befriedigung erheischten. In vielen Beziehungen ähnelt sein demokratisch-soziales Programm dem des armen Rathenau, mit dem er auch den Mangel einer eigenen starken Partei gemein hatte, die ihm erlaubt hätte, seine Pläne in die Wirklichkeit umzusetzen. Aber Rathenau ist tot, und Nitti lebt, und ohne Zweifel hat er die poHtische Bühne, von der iihn die Diktatur vertrieben hat, noch nicht für immer verlassen. Eine seiner ersten Handlungen als Mdnisterpräs'ident war die Gewährung einer umfassenden Amnestie für die Deserteure. Aber daß er darum noch keineswegs mit der R,evolution liebäugelte, beweist die Tatsache, daß er alsbald clie Polizei verstärkte, indem er ein neues Gendarmeriekorps bildete. Troti.dem hätten die Sozia-

- 23 - listen, von deren gutem Willen seiin Kabinett abhing, ihn aller Wahrscheinlichkeit nach noch weiter nach links treiben können, wenn sie ihn. tatkräftig unterstützt hätten. Er wies sie darauf hin, daß Italien, das auf ausländische Kredite angewiesen sei, eine Revolution nicht ertragen könne und eine ruhige Entwicklung nötig habe, um arbeiten und sparen zu können. Die Sozialisten sa'hen diese Argumentation ein, allein sie befolgten sie nicht. Sie fanden weder den Mut zur Regierungsteilnahme noch zur Revolution, und als Nitti daran giing, die staatlichen Zuschüsse zur Niedrighaltung des Brotpreises aus Ersparnisgründen einzuziehen, stürzten sie ihn. Die Zaghaftigkeit der sozialistischen Partei, die sich zu nichts Entscheidendem entschließen konnte und darum gar nichts tat, ist eine der wesentlichsten Ursachen der gegenwärtigen Lage. Niemals hat sich ein Fehler schneller und bitterer gerächt! Allerdings muß man ihr zugute halten, daß sie s,ich in denselben Schwierigkeiten befand, die damals überall die sozialistischen Kräfte lähmte. Di,e russischen Bolschewiki, die skh mit ihren verständnislosen Ratschlägen.' überall· einmischten und durch ihre törichten Phrasen das Proletariat verwirrt,en, tragen ein gerütteltes Maß an dieser tragischen Schuld, die die italienischen Arbeiter jetzt so teuer bezahlen müssen. Die sozialistische Partei hatte dhre Pflicht während des Krieges treulich erfüllt. Sie hatte mit aller ährer Energie gegen den Krieg gekämpft, und sie war die einzige Partei eines großen Landes gewesen, die geschlossen nach Zimmerwald und Kienthal gegangen war. Als die dritte Internationale gebildet wurde, trat sie ihr sofort bei, und sie zögerte nicht, die Parolen zur Revolution auszugeben, die ihrem Programm und ihrer Vergangenheit entsprachen. Aber sie erschöpfte die revolutionären Kräfte durch nutzlose Demonstrationen und sinnlose Heftigkeiten, ohn1e doch einen entscheidenden Schlag zu wagen. Zwischen der von Serrati geführten Parteileitung und der Parlamentsfraktion, an deren Spitze Turati stand, wurde erhlttert der Kampf um reformerische oder revolutionäre Politik geführt. Als in Livomo .die Partei aus der dritten lnternatiionale austrat, wei[ sie die einundzwanrig allein seligrnachenden Punkte nicht anerkennen wollte, löste sich ihr I.inker Flügel los und kionstituierte; sich als Kommunistische Partei, aber der Kampf zwischen Maxima• Listen und Collaborationisten ging weiter. Indessen eroberten die Arbeit-er eine Gemeinde nach der andern, jeden Tag brach ein neuer Streik aus, immer neue Scharen von Arbeitern, Bauern, Kleinbürgern, Beamten, Intellektuellen kamen zum Sozialismus, während die Bourgeoisie durch die Krise geschw.ächt, die_Armee nicht mehr in der Hand der Offiziere, das Parlament zu Zugeständnissen bereit war. Nach den Wahlen im November 1919 zogen 156 sozialistische . Abgeordnei'e in die Kammern ein; von den 8000 Kommunen des

r - 24-· ~önigreichs h.atten 2000 soiial4st-ische Mehrheiten; die Zah) der ~wer:lcsc,ha;ftsmitglieder stieg ,auf d,rci MiUionen. Das Land. war sozial.is.tisch, aber der Sozialis,mus wußte ukht, was er mit dem L~nd .anfangen sollte. Die Streiks ve,rliefep ohne einen gemeinsa,,::n~npolitischen Zweck; statt dessen verlor sich cler Revolutionarismus in törichten Ausschreitungen und überflüssigen Kränkungen, die vieHeicht unvermeidlich waren, ab.er nichts nützten uh,d dem guten Ruf der Bewegun,g schadeten. Die Collahorationisten machte-n geltend, daß- Nitti recht habe, wenn er auf die notwendige Rückskhtnahme gegenüber England. und Amerika hinwies, jene von der Weltrevolution kaum berührten Länder, die einer italienischen Räte-repubiik kein Brot verkaufen und kein Geld borgen würden. Sie wiesen auf Rußland hin, dessen traurige Wirtschaftsla,ge sich immer deutlicher abzuzeichnen begann, und über dessen natürliche Hilfsquellen Italie-n nicht einmal verfüge. ·Sie erinnerten an Ungarn und München; s.ie führten schließ.- lieh die alten demokratischen Ueberzeugungen ins Feld, die moralisch und politisch am geeignetsten seien, um Schritt für Schritt zum Endziel zu gelangen. Die Maximalisten und ebenso die Kommunisten ihrerseits erklärten die Demokratie für eine hohle Lüge, als die sie sich seit dem Bestehen des Staates er.wiesen habe. Sie wiesen auf die revolutionäre Stimmung der Massen hin, die weniger auf sozialistischer Erkenntnis als auf Instinkt und Temperament beruhe, und die verloren ge-hen würde, wenn sie nicht ausgenützt würde. Sie betonteni~ daß es :eine Schande sei, dem König auch nur vorü,bergehend \·zu d.ie,nen, unq daß Italien der· Weltrevolution einen neuen Ansto6 geben könne. Beide Auffassungen hatten viel für sich, jede versprach .einen gewissen Erfolg. Indem die Partei sich- zu keiner durchringen konnte, versäumte sie die kostbarste Zeit und gab den Gegnern die Gelegenheit, sich zu sammeln. Mit Schrecken sah die Bourgeoisie die Flut der Rev,olutiot;t immer höher steigen, während auf der andern Seite sich nicht minder gefährliche Kräfte in den LegJ.onen d' Annunzios und in den Squadern der Fasd regten, Kräfte von dunkler Herkunft :tnd mit noch dunkleren Zwecken. Tatsächlic~ war es ein geradezu anarchischer Zustand. Im Innern herrschte beinahe der Bürgerkrieg, und nach außen wirkten unkontrollierbare Kräfte, die der Kontrolle der Regierung entzogen waren und das Land in unabsehbare Verwicklungen treiben konnten. Da rief man den letzten Mann, den die Bour~oisie noch zur Verfügung hatte: Giolitti~ Giolitti war nicht etwa aus Pazifismus gegen den Krieg gewesen. Seine Neutralitätspolitik hatte lediglich der ökonomischen

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